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Golfpunks dieser Welt

George Archer

Von Jan Langenbein, Fotos: Getty Images

Der Schlaks aus Kalifornien ist im wahrsten Sinne des Wortes der größte Masters-Champion aller Zeiten und musste doch sein Leben lang gegen ein riesiges Handicap kämpfen.

Als George Archer im Oktober 2002 mit 62 Jahren sein insgesamt 999. Turnier auf der PGA Tour und der Champions Tour beendete, sollte ein für alle Mal Schluss sein. Zwar fehlte nur noch ein einziger Start, um in einen äußerst exklusiven Kreis aufgenommen zu werden - bisher schafften es lediglich acht Spieler in der Geschichte der PGA Tour auf mehr als 1.000 Turnierteilnahmen -, doch Archer hatte andere Pläne. "Er hat sich ganz bewusst dazu entschieden, kein weiteres Turnier mehr zu spielen", erinnerte sich seine Witwe Donna Jahre später, "denn er fand, 999 wäre eine coole Zahl."

999 Turnierstarts, darunter 13 Siege auf der PGA Tour und weitere 19 auf der Champions Tour, sind eine beeindruckende Bilanz von 38 Jahren Profigolf. "Als ich mich 1964 der PGA Tour anschloss, sagte ich meiner Frau, dass ich fünf Jahre lang Profigolf spielen wollte. Stattdessen habe ich fünf Karrieren lang gespielt." Mehr als zehn Millionen Dollar erspielte er im Laufe dieser langen Karriere und schaffte es als einziger Golfer überhaupt in den ersten 30 Jahren ab Gründung der PGA Tour, pro Jahrzehnt mindestens ein Turnier zu gewinnen.

Bereits in den 70ern musste sich der aus einfachen Verhältnissen stammende Archer um materielle Dinge daher kaum noch Sorgen machen. Der Weg in die höchsten Höhen des amerikanischen Profigolfs war allerdings keineswegs vorgezeichnet. Geboren am 01. Oktober 1939 in San Francisco schoss der junge George bereits im Vorschulalter in die Höhe und überragte in der Grundschule mit mehr als 1,70 Metern sämtliche Klassenkameraden, was ihn von Anfang an zum Außenseiter machte. Das weitaus größere Problem jedoch war, dass George unter Dyslexie litt, eine Entwicklungsstörung, die eine ausgeprägte Lese- Rechtschreibstörung zur Folge hat und dafür sorgte, dass Archer bis zu seinem Tod im Jahr 2005 nicht schreiben und nur einzelne wenige Wörter lesen konnte. Im Amerika der 40er-Jahre war dies weit mehr als nur ein immenses praktisches Handicap, es kam einem täglicher Spießrutenlauf gleich. "Das ist mein Sohn George", pflegte sein Vater zu sagen, "er ist zu dumm, seinen eigenen Namen zu schreiben." Die Suizidgedanken dieser Zeit vertraute er erst Jahrzehnte später sein Frau an.

Aufgrund seiner überragenden Körpergröße schien Archer prädestiniert für das Basketballteam seiner High School zu sein, doch mit 13 Jahren begann er, als Caddie im benachbarten Peninsula Golf and Country Club zu arbeiten, um das fehlende Taschengeld selbst zu verdienen. Zu viele verpasste Trainingseinheiten waren wenige Monate später der Grund, warum er aus dem Basketballteam flog. George verbrachte einfach zu viel Zeit auf dem Golfplatz.

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MIR WURDEN REGELMÄSSIG MATCHES UM EIN PAAR DOLLAR ANGEBOTEN. ICH SAH WOHL AUS, ALS WÄRE ICH EINFACH ZU SCHLAGEN.
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Im Alter von 19 Jahren verließ er sein Elternhaus, das er zeitlebens mit weitaus mehr Erinnerungen an Schmerzen und Demütigungen als an eine halbwegs glückliche Kindheit in Verbindung brachte, und heiratete kurz darauf Donna, seine erste große Liebe. Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, sich auszumalen, wie es um die Karrierechancen eines mittlerweile auf 1,97 Meter angewachsenen Analphabeten im Kalifornien der 50er-Jahre bestellt war. Folgerichtig bestand die wesentliche Einnahmequelle des frisch verheirateten Paars aus den Gewinnen, die George von seinen Lochwettspielen und Puttduellen aus dem nur wenige Blocks entfernten Lincoln Park mit nach Hause brachte. Er konnte zwar weder eine Tageszeitung noch die Speisekarte einer Eckkneipe entziffern, Grüns lesen konnte George Archer jedoch wie kein Zweiter.

In Lincoln Park, einem ruppigen öffentlichen Golfplatz, der abgesehen von einem malerischen Ausblick auf die Golden Gate Bridge rein gar nichts mit dem elitären und gediegenen Image des Golfsports dieser Zeit zu tun hatte, trafen sich Tag für Tag Bauarbeiter, Polizisten, Tagelöhner von den wenige Meilen entfernten Docks und Zocker jeglicher Couleur auf der Suche nach etwas Ablenkung vom Alltag. "Mir wurden regelmäßig Matches um ein paar Dollar angeboten. Ich sah wohl so aus, als wäre ich einfach zu schlagen", erinnerte sich George Jahrzehnte später an diese Putt-Contests, die nicht selten unter den Scheinwerferkegeln rund um das Putting-Grün geparkter Autos bis weit nach Mitternacht ausgetragen wurden.

Zunächst als Caddie und wenig später dann bei Zockereien auf öffentlichen Anlagen ist der "Old School"-Weg, das Golfspiel zu erlernen, und mag in Zeiten von Schwunggurus, Mentaltrainern und Ernährungsberatern absolut steinzeitlich anmuten. Doch George merkte schnell, dass er auf den Grüns von Lincoln Park so gut wie jedem Gegner überlegen war. Das tagsüber erspielte Kleingeld reichte am Abend schließlich regelmäßig, um Steaks auf den Tisch zu zaubern. In den frühen 60ern trat er bei den San Francisco City Championships an und beeindruckte dabei keinen Geringeren als den späteren US-Open und Open-Championship-Sieger Johnny Miller. "Ich konnte es nicht fassen, wie gut George putten und chippen konnte", erinnerte sich die Kommentatoren-Legende nach Archers Tod. "Er hat seine Jugend mit Puttduellen auf den öffentlichen Golfplätzen von San Francisco verbracht. Kein Wunder, dass er so ein genialer Putter wurde. Er gehört meiner Meinung nach gemeinsam mit Tiger Woods, Tom Watson, Billy Casper und dem viermaligen Open-Champion Bobby Locke zu den besten Puttern aller Zeiten."

Trotz oder gerade wegen seiner Größe war Archer alles andere als ein Longhitter, der die Mehrzahl seiner Abschläge mit dem Holz 3 schlug, da sein Driver viel zu viele Hooks produzierte. Augenzeugen beschrieben seinen Schwung als ein unzusammenhängendes Chaos aus unvorteilhaften Körperwinkeln, instabilen Knien und flatternden Ellbogen.

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1963 gewann er eine Handvoll größerer Amateurturniere, darunter die Trans-Mississippi Amateur Championships, und schaffte es bis ins Halbfinale der US Amateur Championship. Es wurde Zeit, über einen Wechsel ins Profilager nachzudenken, berufliche Alternativen gab es schließlich kaum. "Wenn ich nicht Golf spielen könnte, hätte ich mich höchstwahrscheinlich als Caddie durchgeschlagen", resümierte Archer gegen Ende seiner Karriere.

Doch konnte das überhaupt funktionieren? Ohne lesen und schreiben zu können, als ständig aus dem Koffer leben der Profigolfer kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten reisen? Schließlich gibt es täglich nicht nur kleine Hindernisse wie Speisekarten in Restaurants, Anzeigetafeln oder Verkehrsschilder auf dem Highway, die ernsthafte Schwierigkeiten für einen Analphabeten darstellen. Einzulösende Schecks, Sponsorenverträge, selbst Autogrammwünsche stellten potenzielle Gefahren dar, das Geheimnis des George Archer zu enthüllen, von dem außer seiner Frau und den beiden Töchtern niemand wusste.

Mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung eines Brauereimagnaten wagte George 1964 dennoch den Schritt auf die PGA Tour und sollte bereits ein Jahr später mit dem ersten Profisieg bei der Lucky International Open für seinen Mut belohnt werden. Bis zum Ende seiner Karriere sollte dieser Debütsieg sein süßester bleiben, schließlich war sein Gönner aus der Brauereidynastie nicht nur Sponsor des Events, das Turnier fand zudem noch in Harding Park, einem von Archers Heimatplätzen, statt.

1965 markierte den Startschuss zu einer großartigen Serie, im Laufe derer Archer sechs Turniere in den kommenden vier Jahren gewinnen sollte und dabei Weltklassespieler wie Doug Sanders, Tony Jacklin und Bert Yancey in die Schranken wies. Gekrönt wurde dieser Lauf durch den größten Sieg seiner gesamten Karriere, der - ganz wie es sich für einen der besten Putter aller Zeiten gehört - beim Masters 1969 gefeiert werden durfte. 20.000 Dollar war ein Sieg im Augusta National Golf Club in jener Zeit wert. Ein Vermögen für einen, der keine zehn Jahre zuvor noch für Viertel-Dollar-Münzen im Dämmerlicht unter der Golden-Gate-Brücke Putts versenkte. "Er spielte auf der Tour, weil er Golf liebte. Aber er wusste auch ganz genau, wozu er in der Lage war", erinnerte sich Johnny Miller 2005. "Clint Eastwood sagte einst, ein Mann müsse seine Grenzen kennen. Keiner konnte das so gut wie George. Er spielte, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern, und wusste, dass er sich auf seinen Putter verlassen konnte."

Mit einer Schlussrunde von 72 Schlägen konnte Archer seine engsten Verfolger Billy Casper, Tom Weiskopf und George Knudson hinter sich lassen und staunte bei der Siegerehrung nicht schlecht, dass die Herren des Augusta National Golf Club tatsächlich ein Grünes Jackett in seiner Größe vorrätig hatten. Für den 1,97 Meter großen Hünen war schließlich eine 42 XL nötig. "Ich hätte nicht gedacht, dass es hier auf dem Gelände ein Jackett gibt, das mir passen würde. Meine Schuhe muss ich schließlich bei Chris-Craft kaufen", begann er seine Dankesrede mit Verweis auf einen in Amerika populären Herstellern von Sportbooten. Bis heute hat der Augusta National Golf Club keinen Sieger mehr gesehen, der George Archer in puncto Körpergröße das Wasser reichen konnte.

In den kommenden drei Jahrzehnten sollten noch 25 weitere Profisiege auf der PGA Tour und der Champions Tour folgen und man muss sich fragen, ob George Archer nicht noch mehr Major-Titel hätte gewinnen können, hätten ihm nicht sein fragiler Körper und ein labiles Immunsystem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sieben ernsthafte Operationen musste er ab Mitte der 70er über sich ergehen lassen, darunter Eingriffe am Handgelenk, an der Schulter und am Rücken. 1983 schrieb er am Ort seines größten Triumphs erneut Geschichte, indem er als erster Teilnehmer überhaupt mit einem weiblichen Caddie beim Masters antrat. Zum ersten Mal erlaubte der Club in jenem Jahr clubfremde Caddies und gemeinsam mit seiner damals 19 Jahre alten Tochter Elizabeth erspielte George Archer einen geteilten zwölften Rang, was nicht nur sein drittbestes Ergebnis in Augusta, sondern auch die letzte Top-20-Platzierung bei einem Major war.

1996 musste er sich einer Hüftoperation unterziehen. Zwei Jahre später gelang es ihm als erstem Golfer überhaupt, ein Champions-Tour-Event mit einer künstlichen Hüfte zu gewinnen.

George Archer starb am 25. September 2005 an den Folgen eines Tumors. Einen Monat zuvor fuhr er gemeinsam mit Donna, mit der er insgesamt 44 Jahre verheiratet war, nach Truckee in Kalifornien für eine letzte gemeinsame Runde Golf. Im März 2006 verriet Donna Archer in einem Interview mit "Golf for Women" das Geheimnis ihres verstorbenen Manns, von dem außerhalb der Familie niemand, nicht mal Georges beste Freunde auf der PGA Tour, wussten.

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